Nach drei Tagen kann man bereits ein kleines Zwischenfazit zum diesjährigen Braunschweiger Filmfest ziehen.
Neben einigen schwächeren Filmen waren vor allem das deutsche Drama
Kriegerin und der isländische Film
Undercurrent - Brim
(siehe unten) die Highlights. Beide Filme dürfen sich berechtigte Hoffnungen auf den Publikumspreis, den Heinrich, machen.
The Cat Vanishes (Argentinien 2011):
Ein Film über den Wahnsinn wollte Carlos Sorin (La Pelicula del Rey) eigentlich inszenieren. Doch ein Zitat Alfred Hitchcocks
brachte ihm von diesem Vorhaben ab. Der hatte nämlich zu Psycho gesagt, dass dies kein Film über den Wahnsinn sondern über das Filmemachen
an sich sei. Und so verneigt sich Sorin in The Cat Vanishes vor dem "Master of Suspense". Der argentinische Regisseur erzählt
die Geschichte eines Professors, der als geheilt aus der Psychiatrie entlassen wird. Doch seine Ehefrau hat Angst vor erneuten Gewaltausbrüchen
ihres Mannes. Und wo ist nur die titelgebende Hauskatze, die seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt scheint?
Raffiniert spielt Sorin mit den Erwartungen seiner Zuschauer. Ist der Professor verrückt oder nicht? Aus dieser Frage bezieht der
Film seine Spannung. Die clevere Farbdramaturgie (man achte auf den Einsatz der drei Grundfarben rot, grün & blau) und die attraktive
Filmmusik von Nicolas Sorin, die sowohl auf Bernard Herrmann als auch auf das französische Kino verweist, tragen neben dem guten Darstellerduo
viel zum Reiz des Thrillers bei. Hitchcocks hätte mit der "verschwundenen Katze" vermutlich viel Spaß gehabt.
Undercurrent (Island 2010):
Der Originaltitel des isländischen Dramas Undercurrent - Brim verweist auf den Zeitpunkt, an dem eine Welle am Meer bricht.
Árni Ólafur Ásgeirsson erzählt in seinem zweiten Langfilm nach Thicker than Water basierend auf einem Bühnenstück von der Crew eines heruntergekommenen
Fischkutters, die gerade unter mysteriösen Umständen einen Kameraden verloren hat und nun erneut zum Fischfang den Hafen verlässt. Bald bahnt
sich ein weiteres Drama an.
Brim ist ein Film über die Sprachlosigkeit der Seeleute, das Unausgesprochene, das unter der Oberfläche brodelt. Hinzu kommt der harte Knochenjob
auf hoher See unter widrigsten Wetterbedingungen. Ásgeirsson konnte für seinen Film genau diejenigen Schauspieler gewinnen, die bereits das
Bühnenstück seit vier Jahren gespielt hatten und mit ihren Rollen bestens vertraut waren. Darüber hinaus wurde fast der gesamte Film auf einem
echten Schiffskutter unter schwierigsten Bedingungen gedreht. Diese beiden Umstände machen Undercurrent zu einem zwar spröden,
aber fesselnden Drama von bemerkenswerter Intensität. Das Porträt der Seeleute wirkt beinahe dokumentarisch. Den Zuschauern wird
eine Lebensrealität gezeigt, die die meisten von ihnen, nie selber erleben werden. Und genau das macht Brim so faszinierend wie
gleichermaßen beklemmend.
Kaddisch für einen Freund (D 2011):
Warmherzig und mit viel Sympathie für seine Figuren porträtiert der in Moskau geborene Leo Khasin die Annäherung und sich langsam
entwickelnden Freundschaft zwischen dem libanesischen Jugendlichen Ali und einem russisch-jüdischen Kriegsveterinär. Am Anfang stehen
die Zeichen jedoch noch auf Sturm: Bei einem Einbruch in die Wohnung des alten Mannes, zu der ihn seine gewaltbereite Clique angestiftet hat,
wird Ali von der Polizei gefasst. Um die Abschiebung seiner Familie, die mit dem zugehörigen Strafverfahren droht, zu entgehen, hilft
er nun seinem
jüdischen Nachbarn die völlig verwüstete Wohnung zu renovieren. Es ist der Beginn einer erstaunlichen Freundschaft.
Mit Kaddisch für einen Freund ist Leo Khasin ein unterhaltsames Filmdrama gelungen, das vor allem in den gelungenen Szenen mit
seinen beiden Hauptfiguren besticht. Doch die Entwicklung der Geschichte als auch die Zeichnung des Umfeldes von Ali wirken oftmals
arg plakativ und klischeebelastet. Ob nun die dumpfe Gewaltbereitschaft der Freundesclique oder der patriarchische Vater Alis -
sie sind nicht mehr als eindimensionale "plot devices", Stichwortgeber um die Handlung voranzuführen. Das größte Problem von
Kaddisch für einen Freund bleibt jedoch, dass die Handlung völlig vorhersehbar und überraschungsfrei verläuft - tragisches Ereignis
und versöhnliches Ende inklusive. So hoffnungsvoll die Grundbotschaft des eigentlich sympathischen Filmes auch stimmt, so bleibt
Kaddisch für einen Freund letztendlich doch mehr Sozialmärchen als Sozialdrama. Und das ist schade. (mr)