Das Braunschweiger Filmfest ist zweifellos eine der großen Veranstaltungen im Kulturkalender der Stadt.
Umso erstaunlicher mutet es an, dass das Filmfest in der regionalen Braunschweiger Zeitung nur wenig Beachtung findet.
Hier und da eine Rezension, ein Bericht zum Auftakt und zur Preisverleihung - das war es im Grunde schon.
Heute nimmt der Konzertbericht zu Udo Jürgens (der seine Fans natürlich im Frotteemantel gewohnt begeistert hat),
mehr Platz ein, als die Filmkritik zu
Paradies: Liebe. Schade eigentlich.
Inuk (Grönland 2012):
Inuk ist ein siebzehnjähriger Jugendlicher, der mit seiner alkoholkranken Mutter in Nuuk in Grönland lebt. Als
er eines Tages fast erfroren auf der Straße von der Polizei aufgelesen wird, bringt man ihn in das nördlichste
Kinderheim Grönland. Dort freundet er sich langsam mit dem Robbenjäger Ikuma an.
Es sind atemberaubende Naturaufnahmen Grönlands, die Mike Magidson hier inszeniert. Wenn die von Hunden gezogenen Schlitten
über das Eis rasen - die Eisberge im Hintergrund - ist das schlichtweg spektakulär. Dabei gerät die eigentliche
"Coming-of-Age"-Story mitunter fast zur Nebensache. Aber nur fast. Denn es gelingt dem in Kalifornien geborenen Magidson durchaus
geschickt, die langsame Öffnung des Teenagers vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Grönländischen Gesellschaft zu zeigen.
Dabei spart er auch nicht die ökologischen Probleme der Region (das Schmelzen des Eises angesichts der Klimaveränderung), die das
Leben der Bewohner bedroht, aus.
Mitunter übertreibt die Inszenierung aber dennoch: mancher dramaturgischer Kunstgriff wirkt
zu einfach. Und auch die Filmmusik
vom Justin Michael La Vallee mit ihren Schamanengesängen, Kinderchorälen und perkussiven Rhythmen schießt in ihrer erdrückenden
Opulenz mitunter über das Ziel hinaus. Dennoch begeistert der ausschließlich mit Laiendarstellern aus dem Kinderheim, die das erste Mal vor
der Kamera standen, gedrehte Film, weil er trotz kleiner Schwächen seine Figuren ernst nimmt und zu keinem Zeitpunkt zugunsten eines
massentauglichen Kinos verrät.
Orange Honey (Spanien 2012):
Imanol Uribe setzt mit seinem Politdrama Orange Honey - Miel de Naranjas dem Widerstand während des
Franco-Regimes in den 50er Jahren ein Denkmal. Ähnlich wie der französische Film L'armée du crime von 2009 hinsichtlich
der französischen Résistance sehen wir hier einer kleinen Gruppe von Widerständlern zu, wie sie unter Einsatz ihres Lebens
gegen den repressiven Staatsapparat opponieren. Der junge Enrique wird zur Ableistung seines Militärdienstes von seiner Freundin
an den Gerichtshof vermittelt, ihr Onkel ist dort als hochrangiger Offizier tätig. Als Enrique Exekutionen seiner Freunde
beiwohnen muss, schließt er sich dem Widerstand an.
Leider ist Orange Honey filmisch gesehen eine Enttäuschung. Das beginnt beim Drehbuch: Viel zu verworren
und undurchsichtig bleibt die Arbeit der Widerständler, so dass sich keine rechte Spannung aufbauen will. Zugleich wirkt
das Ende eher verharmlosend, denn sonderlich überzeugend. Aber auch die blassen Darsteller, die einförmige streicherlastige
Filmmusik von Nuno Malo und die statische Kameraarbeit vermögen kein Interesse für das eigentlich hochinteressante Sujet zu
wecken.
Staub auf unseren Herzen (Deutschland 2012):
Eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung steht im Mittelpunkt von Hanna Dooses Langfilmdebüt Staub auf unseren Herzen.
Die dreißigjährige Kathi, alleinerziehende Mutter (Stephanie Stremler), schlägt sich mehr schlecht als recht als
Schauspielerin durch. Ihre Mutter (in ihrer letzten Rolle: Susanne Lothar), selber getrennt lebend, hält ihrer Tochter
ständig vor, was diese falsch macht oder bessern könnte. Als auch noch der Vater nach 15 Jahren Abwesenheit auftaucht und die Familie wieder
zusammenführen will, wird diese mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Hanna Dooses fast ausschließlich aus improvisierten Dialogen bestehender Film bietet glänzendes Schauspielkino. Susanne Lothar
als dominante Mutter ist ebenso großartig, wie Stephanie Kremler in der Rolle der unsicheren, mit sich selbst hadernden
Filmtochter. Zu keinem Zeitpunkt gleitet der Film, und das muss man ihm hoch anrechnen, in billige Komik ab. Durch die
Improvisation wirken Dialoge und Situationen echt. Großartig etwa, wenn Kathi sich bei einem Casting darin abmüht, eine Szene aus
Godards Die Verachtung nachzuspielen oder Mutter und Tochter zusammen eine Wohnung streichen.
Man mag sich bei Staub auf unseren Herzen vielleicht ein wenig an das Kino eines Mike Leigh erinnert fühlen,
ohne dass Hanna Doose freilich derartige soziale Untiefen ausloten würde, wie es der Brite in seinen Film tut.
Ihr Film zeigt Lebenssituationen die vielen Kinogängern vermutlich sehr bekannt vorkommen dürften. Diese Lebensnähe jenseits
jeglichen Kitsches macht die Stärke des beeindruckenden Filmdebüts aus.
Twixt (USA 2012):
Eine Rückkehr zu seinen Karriereanfängen beim Trashregisseur Roger Corman - das schwebte Regielegende Francis
Ford Coppola mit seiner Horrormär Twixt vor. Angeblich hat er sich damit einen Lebenstraum erfüllt.
Der Film erzählt von einem zweitklassigen Schriftsteller von Hexengeschichten (Val Kilmer), der in einer Kleinstadt auf Lesereise
Station macht. Dort wird er mit einer mysteriösen Mordserie konfrontiert. Doch bald überschneiden sich Traumwelt und Realität,
als er auf den Geist eines jungen Mädchens trifft.
Twixt bietet ein selbstreflexives, ironisches Vexierspiel mit Zeit- und Realitätsebenen. Wie viel von dem, was der Schriftsteller im
Alkoholrausch erlebt ist real, wieviel geträumt? Welche Ereignisse spielen in den 50er Jahren, welche heute?
Coppola inszeniert seinen Film als wilde Mischung aus B-Movie, David Lynch und allgegenwärtigem Misterykino mit diversen
Verweisen auf die Literatur. Zum Beispiel steht in der Stadt ein Glockenturm, der Edgar Allen Poe angeblich auf seiner
Durchreise für seine Erzählung "Der Teufel im Glockenturm" inspiriert hat. Coppola lässt seinen Zuschauern viel Raum
für Interpretationen. Doch bei allem fließenden Kunstblut ist Twixt ein überladener, geradezu kruder
Genrecocktail, der sich nicht recht zwischen B-Movie und lynch-verdächtigem Filmpuzzle entscheiden kann.
Am Ende werden viel Kinogänger den Saal ratlos verlassen.
Vielleicht wäre
dieser filmische Lebenstraum doch besser unerfüllt geblieben. (mr)