Es ist schon erstaunlich, welche Anziehungskraft eine Oscar-Statue auf selbst hartgesottene Journalisten
ausübt - so gesehen beim Pressegespräch mit Ludivic Bource, der am Freitagabend, seine Filmmusik zu
The Artist
live mit den Braunschweiger Sinfoniker präsentierte (Konzertrezension folgt). Anfassen wollte sie jeder, aber irgendwie ist das
ja auch verständlich...
Beasts of the Southern Wild (USA 2012)
Als Gewinner der Goldenen Kamera beim Filmfestival in Cannes kommt Beasts of the Southern Wild
mit vielen Vorschusslorbeeren daher. Das Langfilmdebüt von Benh Zeitlin erzählt von der sechsjährigen Hushpuppy
(Quvenzhané Wallis), die mit ihrem herzkranken Vater in ärmlichen Verhältnissen im Bayou lebt. Die Regierung will
die von der Überschwemmung bedrohten Anwohner zwangsevakuieren, doch diese weigern sich hartnäckig, ihre Heimat
zu verlassen.
In soghaften, mitreißenden Bildern zeigt Beasts of the Southern Wild das Leben am Mississippi konsequent
aus der Sicht des kleinen Mädchens, wobei die Grenzen zwischen Realität und Erträumten immer wieder verschwimmen.
Vielfach wurde der Film dafür kritisiert, dass er das Klischee vom "edlen Wilden" bemühe und
sich in verlogener Sozialromantik suhle und dabei im Zusammenspiel von Bildern und der Bluegrass-Musik
allzu manipulativ für die Seite der Bayou-Bewohner Partei ergreife.
So wenig diese Vorwürfe von der Hand zu weisen sind,
sollte man gleichwohl nicht vergessen, dass Beasts of the Southern Wild eine eigene, in sich geschlossene Filmwelt
entwirft, die keinen dokumentarischen Anspruch besitzt. Kinomagie oder Sozialkitsch? Diese Frage dürfte
beim deutschen Filmstart Ende Dezember noch kontrovers diskutiert werden. So oder so. Sehenswert ist
Beasts of the Southern Wild in jedem Fall.
Side by Side (USA 2012):
Einer der wenigen Dokumentarfilme des diesjährigen Filmfests, Side by Side von Christopher Kenneally, untersucht die
Auswirkungen der digitalen Revolution auf das Kino und Filmemacher. Dabei führt der Film den Zuschauer zurück in die späten
70er Jahre zu den ersten Experimenten mit digitalen Trickeffekten bei Unterhaltungsfilmen wie Star Wars, Star Trek
oder Close Encounters bis hin zum ersten vollständig digital gedrehten Kinofilm
(Star Wars - Episode II: Attack of the Clones von George Lucas) und der daraufhin folgenden Weiterentwicklung digitaler Kameras.
Kenneally konnte für seinen Film zahlreiche hochrangige Hollywood-Regisseure wie James Cameron, David Fincher, Christopher Nolan
oder Steven Soderbergh gewinnen, die - von Keanu Reeves interviewt - bereitwillig Auskunft geben. Schnell wird deutlich
dass die Digitalisierung den Entstehungsprozess eines Filmes völlig verändert und die Beteiligten vor große Herausforderungen
gestellt hat. Wurden früher die Filmaufnahmen eines Drehtages über Nacht entwickelt und standen erst einen Tag später als
sogenannte "Dailys" zur
Verfügung, kann man nun schon am Set die gerade aufgenommenen Szenen beurteilen. Wurde früher ein Film per Hand geschnitten,
findet die Bearbeitung heute ausschließlich am Computer statt. Es werden nicht mehr Filmrollen an die Kinos verschickt, sondern
Festplatten - eine große Kostenersparnis.
Ein solcher Umbruch hat natürlich nicht nur Gewinner, sondern auch zahlreiche Verlierer, die sich den neuen Herausforderungen
nicht stellen können oder wollen. Es ist ein wenig schade, dass Kenneally fast ausschließlich Hollywoodgrößen zu Wort kommen
lässt, aber die Auswirkungen auf die unzähligen Arbeiter hinter den Kulissen bis hin zu den Kinobetreibern völlig vernachlässigt. So lässt
Side by Side trotz seines Informationsgehaltes ein etwas schiefes, unvollständiges Bild entstehen. Dennoch ist
der Film wichtig, weil er informativ und anschaulich einen Umbruch verdeutlicht, den viele Kinogänger wohl nur am
Rande wahrnehmen. Unabhängig davon, ob man die Entwicklung zum digitalen Film begrüßt oder ihr skeptisch gegenüber
steht. Aufhalten lässt sie sich nicht mehr. (mr)