Filmfestivals bieten ihrem Publikum immer wieder die Gelegenheit, Filme aus aller Welt zu sehen, bei denen ungewiss
ist, ob sie es jemals regulär in die Deutschen Kinos schaffen. Filme, die unangenehme gesellschafts-politische Themen berühren -
fern vom üblichen Hochglanzkino. Dazu gehören ganz gewiss auch die folgenden drei Filme, die derzeit auf dem Braunschweiger
Filmfest zu sehen sind und den Zuschauer nach Indien, in die Türkei und nach Tunesien entführen.
The Lunchbox (Indien 2013):
Ein scheinbar perfektes System: In Indiens Megacity Mumbai kochen die Frauen für ihre Ehemänner
das Essen. Die sogenannten Dabbawallas, die Essensbringer, holen es ab, bringen es an den Arbeitsplatz und liefern die leeren Essensbehälter
wieder zurück nach Hause. Und doch kann etwas schiefgehen: Das Essen einer einsamen Hausfrau landet nicht bei ihrem
Mann, sondern einem frustrierten Büroangestellten, der so in den Genuss ihrer wundersamen Kochkünste kommt. Als Beide
von der Verwechslung erfahren, schicken sie sich über die "Lunchbox" Briefe. Manche Botschaft lässt sich dabei
freilich auch über das Essen ausrichten, wenn es einmal besonders scharf oder salzig ausfällt oder die "Lunchbox"
nicht den erwarteten Inhalt besitzt. Langsam bahnt sich eine zarte Romanze zwischen den beiden Seelenverwandten an.
Ritesh Batras ist in seinem Langfilmdebüt ein kleines Stückchen Kinomagie gelungen. Einfühlsam und unprätentiös porträtiert er
zwei Menschen, die in ihrem tristen Alltag gefangen scheinen und über den ungewöhnlichen Briefwechsel neuen Lebensmut
schöpfen. Mit kluger Beobachtungsgabe zeichnet er ihre Hoffnungen und Sehnsüchte nach, ohne auch nur eine Sekunde in irgendeine Form von Kitsch zu verfallen.
Es ist einer der wunderbaren Drehbucheinfälle, dass sich das ungleiche Paar bis zum reizvollen Ende nicht auf der
Leinwand begegnet. Heimlicher Hauptdarsteller von The Lunchbox ist natürlich Mumbai, dass Batras hier
nicht im Kontrast Arm-Reich, sondern aus der Sicht des Mittelstands zeigt. Wenn die Kamera die echten Dabbawallas auf dem Weg
von den Wohnungen zu den Büros begleitet, dann liefert The Lunchbox auch einen unverstellten Blick auf den Alltag in
der Metropole. Ein wunderbarer Film, der für manchen Kinogänger zum Favoriten des diesjährigen Filmfests avancieren dürfte.
The Particle - Zerre (Türkei 2012):
Einen ernüchternden Blick auf das Leben in einer Großstadt wirft Erdems Tepegözs Spielfilm
The Particle - Zerre. In einer fast dokumentarisch wirkenden Inszenierung wird die Geschichte der jungen
Zeynep erzählt, die mit ihrer Familie - der Vater ist verschwunden - im Istanbuler Stadtviertel Tarlabasi lebt,
das gerade nach und nach abgerissen wird. Die verzweifelte Frau hält sich und ihre Tochter mehr schlecht als recht
über Wasser. Sie ist immer wieder gezwungen, für einen Hungerlohn unter unmenschlichen Bedingungen Jobs anzunehmen.
Eine auf sich allein gestellte Frau ist in der Männerwelt einer Metropole wie Istanbul nicht viel wert, ein Staubkorn oder
Partikel im Universum - wie der Filmtitel suggeriert. Tepegöz inszeniert mit einem Realismus, der an der Kino von Ken Loach erinnert.
Zeyneps Schicksal ist das Schicksal vieler Menschen auf dieser Erde. Uns so gibt es für sie auch keine echte Hoffnung, keinen
Lichtschein am Ende des Tunnels. The Particle entwirft darum einen beklemmend-realen Alptraum, aus dem es kein Entrinnen
gibt. Zeyneps Lage hat sich am Ende des Filmes dann auch nicht verbessert, eher sogar zugespitzt. Darin liegt zugleich eine
Schwäche des Drehbuchs, denn es gesteht seinen Figuren keine Entwicklung zu. Inhaltlich tritt The Particle
bei aller Intensität des Gezeigten und trotz der großartigen Leistung seiner Hauptdarstellerin Jale Arikan etwas
auf der Stelle. So muss sich Erdems Tepegöz möglicherweise die Frage gefallen lassen, warum er nicht gleich einen
Dokumentarfilm gedreht hat.
Hidden Beauties (Tunesien 2012):
Der arabische Frühling und die Revolutionen in Ländern wie Ägypten und Tunesien haben nicht nur ein Machtvakuum
erzeugt, sondern auch klassische Gesellschaftsstrukturen und Rollenbilder ins Wanken gebracht. Viele junge Frauen
haben nicht gegen ein diktatorisches Regime demonstriert, um sich danach wieder verschleiert einer Männer-geführten
Gesellschaft unterzuordnen. Auf die politische Revolution folgt nun die Revolution innerhalb der Familien, in denen
sich der Konflikt im Spannungsfeld Tradition und Moderne neuerlich entfaltet. Und genau davon erzählt der tunesische
Spielfilm Hidden Beauties von Nouri Bouzid: Zwei junge Frauen kämpfen während der Revolution von 2011 nicht
nur auf der Straße um ihre Freiheit, sondern auch in ihrem familiären Umfeld, am Arbeitsplatz (einer Bäckerei) und im Umgang mit ihren
potentiellen Ehemännern. Jeder Zentimeter Freiheit ist teuer erkämpft und jeder Konflikt gleicht einer Zerreißprobe.
Es gibt eine Szene in der zweiten Hälfte, die mit großer Symbolkraft diese Zerrissenheit nicht nur der jungen Frauen,
sondern des ganzen Landes spiegelt: Die widerspenstige Zaineb wird von ihrer Mutter mit Drogen ruhiggestellt. Wie
in einem wahnhaften Delirium reißt sie sich immer wieder den Schleier vom Kopf, um ebenso oft von ihrer Mutter und Tante wieder
verhüllt zu werden. Doch der Freiheitswunsch lässt sich auch nicht mit Drogen unterdrücken, Zaineb sich nicht gefügig machen -
auch wenn dies immer und immer wieder versucht wird. Ein Irrsinn ohne Ende.
Nouri Bouzid faszinierender Film guckt jenseits der gängigen
Medienbilder auf eine tunesische Gesellschaft im Umbruch. Er liefert keine einfachen Antworten auf die lange schwelenden Konflikte des Landes.
Der Kampf um Freiheit ist bisher weder verloren noch gewonnen und die Zukunft ungewiss. So endet auch der Film hoffnungsvoll,
aber dennoch offen. (mr)