Filmfestivals sind immer auch der Platz für filmische Experimente, währende des Studiums
oder als Abschluss dessen entstandene Projekte, die oftmals mit kleinem Budget und begrenzten
Möglichkeiten realisiert wurden. Solche Experimente können manchmal aber auch fehlschlagen. Doch zunächst
zur leichteren Muse:
Week-ends (F 2014):
In guter Tradition zeigt das Filmfestival auch in diesem Jahr wieder ein Spielfilm-Projekt, welches
in der Haut-Normandie entstanden ist. Mit leichter Hand erzählt Anna Villacèque in Week-ends
von zwei befreundeten Ehepaaren (u.a. gespielt von Ulrich Tukur), die sich alljährlich an der Normandie-Küste treffen und zusammen
ihre Ferien verbringen. Doch als die Ehe von Jean und Christine eines Tages zerbricht, hat dies auch
Konsequenzen für das andere Paar: Wie sollen sie sich im Folgejahr verhalten, als Jean mit einer neuen
Freundin im Dorf auftaucht?
Dem Kameramann Pierre Milon gelingen wunderschöne Aufnahmen der Normandie-Küste im Wechsel der Jahreszeiten.
Sorgfältig porträtiert Anna Villacèque in ihrem Film den Wandel von Beziehungen über die Zeit,
die verschiedenen Konstellationen, die entstehen. Das erinnert nicht zufällig an die Filme von Woody Allen, bleibt
aber durch seinen Schauplatz und den Verzicht auf pointierte Bonmots doch ganz eigen. Am Besten
resümiert Ulrich Tukur Stimmung und Inhalt von Week-Ends in der Schlussszene: Mit einem reizvollen
Chanson fragt er, wo all die Liebenden gelieben seien.
Andarevia (Italien 2013):
Der Italienische Spielfilm Andarevia (dt.: "weggehen") wurde vom Fernsehsender RAI ursprünglich nur für das Internet
produziert. Und so war es für die Filmemacher in Braunschweig das erste Mal, dass sie ihn auf
der großen Leinwand sahen. Der Film stellt fünf psychisch Kranke in den Mittelpunkt, die als Bestandteil ihrer Therapie
eine Segeltörn vor Sardinien unternehmen. Als die Betreuer bei einem tragischen Unfall auf offener See
tödlich verunglücken, ist die Gruppe auf sich allein gestellt. Ein Experiment mit ungewissem Ausgang beginnt.
Behutsam nähert sich Claudio di Baggio in seinem Debütfilm den Figuren an, fokussiert sie
mit Naheinstellungen, die spiegeln, wie sehr jeder doch für sich in der eigenen Welt gefangen ist. Gleichzeitig
arbeitet die Kamera mit Unschärfen, die erst einen klarem Blick weichen, als sich die unfreiwillig
auf dem Boot Gefangenen zusammenraufen, um das Schiff wieder gen Land zu steuern. Doch die neu gefundene
Harmonie funktioniert nur in der isolierten Situation auf dem Wasser. Zurück an Land, so suggeriert Andarevia
im letzten Drittel, haben diese Menschen keine Chance, müssen mit ihren Problem zwangsläufig scheitern.
Limbo (D/Dk 2014):
Sie habe mit offenen narrativen Erzählweisen experimentieren wollen, erklärte die Jungregisseurin
Anna Sofie Hartmann im Filmgespräch zu ihrem Erstling Limbo.
Die gebürtige Dänin hat den mit kleinem Budget produzierten Film als Teil ihres Studiums an der Deutschen
Film & Fernsehakademie inszeniert. Tatsächlich bricht Limbo mit normalen Sehgewohnheiten:
Das Drama porträtiert in dokumentarisch wirkenden Aufnahmen das Leben der jungen Sara in einer dänischen Kleinstadt. Der Zuschauer sieht
sie im Schulunterricht, bei den Proben zu einer Theateraufführung sowie in der Freizeit. Parallel
dazu montiert Anna Sofie Hartmann Aufnahmen des Anbaus und der Verarbeitung von Zuckerrüben.
Im letzten Teil des fragmentarisch wirkenden Films geht sie noch einen Schritt weiter, nimmt ihre Hauptfigur mittels
eines Schicksalsschlags vollständig aus der Handlung.
Ähnlich wie Violent porträtiert auch Limbo ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Leider steht der experimentellen Konstruktion kein äquivalenter Inhalt gegenüber. Der Film kommt in
seinem halb-dokumentarischen Gestus keiner seiner Figuren wirklich nahe. Die quälend langen Einstellungen
taugen weder als Projektionsfläche, noch fügen sie sich zu etwas Größerem zusammen. Der selbst auferlegte
Realismus - es wurde fast ausschließlich mit Laiendarstellern gedreht - wirft allein einen banalen Blick
in den Alltag der Hauptfiguren. So sehr der Mut zum Andersartigen Bewunderung verdient, läuft das
filmische Experiment Limbo doch leider in die Leere.
Von glücklichen Schafen (D 2014):
Wie fragil ein Familienidyll doch sein kann: Am Anfang des Films Von glücklichen Schafen feiert der junge
Can mit seiner alleinerziehenden Mutter seinen 16. Geburtstag. Alles scheint in Ordnung: Es gibt eine schicke
E-Gitarre als Geschenk, leckeren Kuchen und nachmittags erscheint auch der Großvater überraschend
zum Essen. Doch am Abend wird Can von seinem besten Kumpel in ein Bordell eingeladen.
Als er an der Reihe ist, trifft er auf die eigene Mutter, die mit ihrem Job als Prostituierte
die kleine Familie über Wasser hält. Für den Teenager bricht eine Welt zusammen. Kurzerhand zieht er
mit seiner kleinen Schwester beim Großvater ein und lässt sich zu einem fatalen Racheakt hinreißen.
Kadir Sözen ist mit Von glücklichen Schafen ein berührend-warmherziges, aber zu keinem
Zeitpunkt in die Kitschfalle tappendes Filmdrama geglückt. Als besondere Stärke des Drehbuchs
erweist es sich, dass es weder moralisiert noch die Figuren gegeneinander ausspielt.
Wenn die Geschichte im letzten Drittel mit unerbittlicher Konsequenz auf ihr tragischen Ende zusteuert,
wirkt dies nur deshalb so ergreifend, weil das Drehbuch keine einfachen Schuldzuweisungen zulässt.
Dazu erstaunt, wie konzentriert und schnörkellos Kadir Sözen seine Geschichte entwickelt.
Dabei kann er auf ein großartiges Darstellerensemble zurückgreifen:
Nicht zuletzt
dank der exzellenten Narges Rashidi in der Rolle der Mutter und der großartigen Jungdarsteller
gehört Von glücklichen Schafen zu den stärksten Filmen des diesjährigen Filmfestivals. (mr)