Das Braunschweig International Filmfestival geht in die 29. Runde. Dieses Jahr stehen viele Filme
im Mittelpunkt, die von einer angesichts von Kriegen und Wirtschaftskrisen sich im Umbruch befindlichen
Welt erzählen. Wie beeinflussen die Veränderungen das Leben einzelner Menschen? Und wie verhalten sich
Menschen in Ausnahmezuständen? Dieses sind Fragestellungen die Wettbewerbsfilme wie
Pikadero oder
The Sky above us umtreibt.
Pikadero (Spanien/GB 2015):
Manchmal kann eigentlich Einfaches so schwer sein: Das frisch verliebte Paar Gorko und Ana sucht einen
Platz für die erste gemeinsame Nacht. Zuhause bei der Familie geht es nicht, auf der Kneipentoilette geht alles schief und die sogenannten "Pikaderos" - öffentliche Plätze
für sexuelle Begegnungen - erweisen sich als überfüllt. Die Suche nach etwas Intimität und privater Freiheit inszeniert
Ben Sharrock in Pikadero mit leisem trockenen Humor. Zugleich spiegelt der Film eindrucksvoll die Auswirkungen
der Weltwirtschaftskrise im Baskenland. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit sind Gorko
und Ana - wie viele andere auch - gezwungen auch mit fast Dreißig noch bei den eigenen Eltern zu wohnen. Der Weg in ein selbstbestimmtes
Leben bleibt für sie vorerst verstellt.
Sharrock findet für die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen symbolträchtige Bilder.
Er verwendet lange statische Kamera-Einstellungen, die in ihrer ständigen Wiederkehr perfekt den gefühlten Stillstand in
der Region einfangen. Und wenn sich das junge Paar
immer wieder abends an einer einsamen Bahnhaltestelle trifft - ein Auto können sie sich nicht leisten - dann stellt sich unweigerlich
die Frage, wohin die Reise für die Beiden geht: Ana will ihr Glück in Schottland versuchen, Gorko weiter in einer Fabrik,
die Werkzeuge herstellt, arbeiten. Doch welcher Weg der wirklich bessere ist, muss offenbleiben. Nur eines erscheint klar:
Die Krise zerreißt Freundschaften gleichermaßen wie Beziehungen. Ben Sharrock gelingt mit Pikadero das seltene
Kunststück, das eigentlich traurige Thema mit leichter Hand und viel bittersüßer Ironie zu inszenieren.
Ein erstes Festivalhighlight.
The Sky above us (Niederlande/Serbien 2015):
Wie verhalten sich Menschen in Extremsituationen? Das ist das Thema von Marinus Groothofs
Filmdrama The Sky above us. Er porträtiert drei Menschen während der Nato-Bombardements
auf Belgrad im Kosovokrieg 1999, die alle ganz unterschiedlich auf die nervenzerrende Lage reagieren. Die Schauspielerin Ana
versteckt sich hinter Make-Up und ihrer bevorstehenden Theaterpremiere. Der Fernsehtechniker Sloba
tut so als wäre nichts los und arbeitet einfach weiter. Und sein jüngerer Kollege Bojan feiert
exzessive Drogenpartys im Clubs, in denen der laute Technobeat die nächtlichen Bombeneinschläge übertönt.
Doch natürlich muss die Realitätsflucht der drei Hauptfiguren zwangsläufig scheitern.
Die allenfalls lose miteinander verschränkten Erzählstränge werden von Marinus Groothofs zu einem
beklemmenden unprätentiösen Porträt einer Stadt im Krieg verknüpft. In einer absurden Szene steht Bojan
inmitten unzähliger Nato-Flyer mit der Botschaft "Wir wollen Euch helfen" - ein blanker Hohn angesichts
der unmittelbar drohenden Gefahr. Doch The Sky above us verweigert sich einer unmittelbaren politischen Agenda.
Der Film könnte genauso gut in einer anderen Stadt im Kriegszustand spielen. Wenn das Filmdrama eine Schwäche hat, dann
die, dass er die von den Bombardements ausgehende Gewalt kaum physisch spürbar macht. Nur in einer Szene sehen wir
wie Ana in einem Taxi beinahe von einer Explosion erwischt wird. Ansonsten bedient sich The Sky above us leider
nur jener diffusen Bilder, wie wir sie aus Fernsehnachrichten zu genüge kennen: Rauchschwaden, blitzartige Bilder von Explosionen im
Dunkeln und Aufnahmen von Häuserruinen im Hellen. So bleibt es oft allein beim bangen Blick nach oben. Es hätte
der Wirkung von The Sky above us aber geholfen, wenn der Film den unmittelbaren Terror
der Bombeneinschläge auch audiovisuell deutlicher erfahrbar gemacht hätte. (mr)