Bereits zum sechsten Mal trafen Film- und Musikwissenschaftler sowie Interessierte aus der Praxis Anfang Juli zu einem
dreitägigen Filmmusiksymposium zusammen, deren Gastgeber dieses Jahr die Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) "Konrad Wolf" in
Potsdam-Babelsberg war. Zentraler Schwerpunkt der Tagung war das Thema "Dramaturgie", das mehr oder minder lose als Leitgedanke der zahlreichen
Vorträge diente. Filmmusik wird dabei als ein Bestandteil des kooperativen Kunstwerkes Film begriffen, der sich zwangsläufig in den Gesamtkontext
der Inszenierung eingliedern muss. Wie dies in der Praxis allein nur auf auditiver Ebene aussehen kann, zeigte David Ziegler von der HHF gleich
im ersten Vortrag, indem er die Ton- und Musikmischung anhand des fünfminütigen Animationsfilms Our Wonderful Nature
(2007, youtube) problematisierte: In dem Kurzfilm streiten zwei Wasserspitzmäuse um die
Gunst eines Weibchens. Die zugehörige Musik von Stefan Maria Schneider orientiert sich deutlich an der musikalischen Ästhetik des
gegenwärtigen Hollywoodfilms, arbeitet mit überzeichneten Klischees wie man sie aus der Media Ventures-Schule um Hans Zimmer kennt. Doch gleichzeitig
konkurriert sie mit der Arbeit des Geräuschmachers und der des Sound-Designers. Dabei geht es um die Aufteilung des akustischen vom
menschlichen Ohr wahrnehmbaren Frequenzbereichs, insbesondere welche Spektren vom Sound Design und welche von der Musik belegt werden
dürfen. Zwangsläufig schließt sich daran die Frage an, welche Geräusche bzw. Musikanteile im Falle sich überlagernder Tonspuren
überhaupt zum Zuschauer vordringen können und sollen.
Doch welche Funktionen erfüllt Filmmusik im visuellen Kontext und wie kann man diese Funktionsweisen wissenschaftlich
systematisieren? Gleich mehrere Vorträge widmeten sich diesem Thema, etwa der von Stephan Wolff zum Thema "Parameter der Filmmusik"
oder Jurai Lexmans Beitrag zum "Bildlich-musikalischer Kontrapunkt". Doch die durchaus interessanten Ansätze beider Wissenschaftler
kranken daran, entweder durch eine eingeschränkte Perspektive (z.B. auf das klassische Hollywoodkino) zu sehr zu verallgemeinern
oder aber (wie bei Lexman) sich in einer zwar ambitionierten, aber doch praxis-untauglichen Fallunterscheidung (Lexman unterscheidet
49(!) Arten des audiovisuellen Kontrapunkts) zu verlieren. So eindeutig, wie hier suggeriert, lässt sich die Funktion von
Teilen einer Filmmusik dann wohl doch nicht zuordnen.
Dass Filmmusik ein weites Feld ist, dies belegten weitere Vorträge der Tagung:
Jürg Stenzel, Autor des Buches Jean-Luc Godard - musicien: Die Musik in den Filmen von Jean-Luc Godard warf das Schlaglicht
auf die Musik von Louis Saguer (1907-1991) zum ersten Spielfilm "Le Signe du Lion - Im Zeichen des Löwen" (1959) von Éric Rohmer, der
am Anfang der Nouvelle Vague entstand. Die musikalische Konzeption ist hier ungewöhnlich: Saguer komponierte für den
Film seine einzige Filmmusik, eine stilistisch an Bartok anknüpfende Sonate für Solovioline, die Rohmer in verschiedenen Szenen
des Filmes in Ausschnitten einsetzte. Diese Art des Filmmusik-Verwendung zeigt allein schon, wie schwer es ist der Kunstform
Filmmusik mit einer theoretischen Systematisierung gerecht zu werden. Filmmusik in all seinen Erscheinungsformen ist dafür schlichtweg ein
zu unüberschaubarer Korpus voller Mischformen und Sonderfälle, der Generalisierungen in nur begrenztem Maße zulässt.
Wie Roswita Skare in ihren Ausführungen zum
Stummfilm Nanook of the North von 1922 zeigte, gibt es zu diesem Film keine festgelegte Filmmusik. Während für die zeitgenössischen
Aufführungen des Filmes noch sogenannte "cue sheets" Anweisungen gaben, wie die Musik begleitet werden sollte, wurden anlässlich
der in den Jahren 1947, 1976 und 1998 vorgenommene Restaurierungen jeweils komplett neue Musiken komponiert. Für die Tonfassung mit Erzähler arbeitete Rudolf Schramm,
für die 76er-Fassung Stanley Silverman und bei der bislang letzten von 1998 zeichnete Timothy Brook verantwortlich. Alle drei Musiken orientieren
sich in ihren atmosphärisch geprägten Stimmungsbilder allenfalls lose an den ursprünglichen, in den cue sheets festgehaltenen, Direktiven.
Deshalb wird schnell deutlich: Die Zuschauer von 1922 haben einen anderen Film gesehen als wir heute. Kurioserweise werde, so Roswita Skare,
in vielen Filmanalysen nicht einmal angegeben, auf welche Schnitt- und damit Musikfassung sich diese beziehen.
Eine gänzlich andere Perspektive auf das Genre Filmmusik wurde von Ulrich Wünschel, Dramaturg bei der Europäischen Filmphilharmonie in Berlin,
eröffnet. Wünschel ist verantwortlich für die Erstellung von Programmen für Filmmusik-Konzerte, die meist ein junges Publikum in die
Konzertsäle locken sollen. Die ist aber meist verbunden mit dem ambitionierten Lehrauftrag, über die populären Gassenhauer wie Star Wars oder
Herr der Ringe hinaus auch weniger bekannten, aber dennoch herausragenden Filmmusiken die Chance zu geben, aufgeführt zu werden.
Diese Vorgehensweise unterscheidet sich maßgeblich von der rein kommerziellen Vermarktung von Filmmusik im Stile des Radiosenders
Klassikradio, bei der Filmmusik als teuere Konzert-Events vergleichbar mit Event-Musicals inszeniert wird.
Auch die sechste Filmmusik-Tagung der Kieler Gesellschaft für Filmmusik-Forschung hat in hochinteressanten Vorträgen und intensiven Diskussionen
dazu beigetragen, sich weiter dem schwierigen Themenkomplex Filmmusik anzunähern. Dass Filmmusik ein wesentlicher Bestandteil
der Dramaturgie eines Filmes ist, der mit den anderen Gestaltungsmitteln eines Filmes im Kontext steht und Wechselwirkungen eingeht, wird
in der Forschung dabei viel deutlicher herausgearbeitet, als es bei Filmmusik-Hörern der Fall ist. Fragestellungen zu der Rolle des
Komponisten und das Zweitleben von Filmmusik abseits des Filmes z.B. auf Tonträger oder in Konzertaufführungen und welchen Einfluss diese
Faktoren auf die Entstehung von Filmmusiken haben, spielen in der Forschung bislang nur eine geringe Rolle. Dies sollte und dürfte sich in der Zukunft
aber durchaus noch ändern. (mr)
Links:
[1] Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung (Veranstalter)
[2] FHH Potsdam