Avantgardistische Musik im Hollywoodkino - das funktioniert
hauptsächlich im Horrorgenre. Am ehesten werden hier Techniken angewendet,
die es ansonsten seit Jahrzehnten in die Konzert- nicht aber in die Kinosäle
geschafft haben. Minimalistische Musik hat hingegen sehr selten in das Horrorgenre
Einzug gehalten, zum Beispiel in den
Candyman-Musiken von Philip Glass.
In
Ravenous wagte Michael Nyman 1999 erneut das ungewöhnliche Experiment.
Zusammen mit dem Kopf der Britpop- Band "Blur", Damon Albarn, entwarf er eine
minimalistische Vertonung für einen umstrittenen Film, der in nicht
feiertagsfreien ab-18-Bildern von Kannibalismus im amerikanischen
Mittelwesten des 19. Jahrhunderts erzählt. Der Film ist aber nicht nur ein
blutrünstiges Machwerk sondern trägt zum Teil durchaus ambitionierte Züge.
Filmkritiker waren trotzdem überwiegend mit dem Gesamteindruck unzufrieden.
Die Regisseurin Antonia Bird hätte die gesellschaftskritische, verstörende
Botschaft hinter den grauenhaften Bildern durch zuviel schwarzen Humor entschärft,
lautete der gängige Tenor.
Die Musik unterstützt diesen satirischen Eindruck,
ist zum Teil aber auch sehr verstörend angelegt. Die meisten Stücke
sind - wie für Minimalistische Musik üblich - recht einfach aufgebaut.
Sie basieren auf einem additiven Prinzip. Durch das Hinzufügen von immer
neuen Stimmen zum Gesamtklang schwillt der Sound immer mehr an und erhält
durch die sich überlagernden Stimmen eine immer beunruhigendere Wirkung.
Gerade durch die ständigen Wiederholungen bekommt die Musik etwas
Unerbittliches, Unaufhaltsames. Ein Highlight ist hier sicher "Colquhoun’s Story",
in dem eine alte Schellackaufnahme geloopt wird, und über der sich dann die
anderen Stimmen, u.a. eine Gitarre, Flöten und die Streicher entfalten.
Letztere setzen plötzlich im Laufe des Stücks mit sehr dissonanten
Klängen ein, und geben ihm eine besonders beunruhigende Wirkung.
Zu Nymans und Albarns Vertonungskonzept gehört aber auch "verstimmte"
Folklore: Zwei Tracks sind Arrangements von Songs des im 19. Jahrhundert in
Amerika ungemein beliebten Songwriters Stephen Foster für ein
Laienorchester (das sogenannte "Foster's Social Orchestra"), das Nyman speziell für den Film ins Leben rief.
Alle Mitglieder dieser Gruppe verfügen über keinerlei musikalischen Background,
und dementsprechend klingen die von ihnen gespielten Stücke irritierend falsch.
Anhand der Instrumentierung der Stücke lässt sich nur mutmaßen, welcher der
beiden Komponisten welche Teile beigesteuert hat. Nymans typischer Sound,
dem auch die ungewöhnliche Zusammenstellung seiner Michael Nyman-Band geschuldet
ist, lässt sich häufig raushören: eine eher kammermusikalische Besetzung aus
Streichquartett, Saxophontrio, Trompete, Horn, Posaune, E-Gitarre und Klavier.
Albarn setzt häufiger auf Samples und andere elektronische Spielereien, die er aber schon deutlich geschickter und raffinierter einsetzt, als man es aus der alltäglichen Popmusik gewöhnt ist.
Die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Komponisten sind dabei
doch so aufeinander abgestimmt, dass der Gesamteindruck nicht zu eklektisch
wird. Zudem ist so über die lange Spielzeit der CD ein recht
hohes Maß an Abwechslungsreichtum garantiert - etwas das man im Minimalismus auch
nicht immer vorfindet. Vom Konzept her ist Ravenous
jedenfalls eine der spannenderen Horror-Vertonungen der letzten Jahre,
wenngleich aber in manchen Teilen recht einfach gestrickt. (jb)
Virgin 7243 5 22370 2 9
The Michael Nyman Band & Foster's Social Orchestra
Dirigent: Michael Nyman
73:59 Min.
Filminfo:
Deutscher Titel: "Ravenous - Friß oder stirb"
Regie: Antonia Bird
Darsteller: Guy Pearce, Robert Carlyle
Tracklist:
- Hail Columbia (2:42)
- Boyd’s Journey (3:02)
- Welcome to Fort Spencer (1:41)
composed by Stephen Foster, arranged by Michael Nyman
- Noises Off (1:54)
composed by Stephen Foster, arranged by Michael Nyman
- Stranger at the Window (1:38)
- Colquhoun’s Story (4:43)
- Weendigo Myth (1:23)
- Trek To The Cave (4:24)
- "He Was Licking Me" (1:41)
- The Cave (8:01)
- "Run" (2:10)
- "Let’s Go Kill That Bastard" (3:51)
- "The Pit" (4:37)
- Cannibal Fantasy (2:12)
- A Game Of Two Shoulders (2:25)
- Checkmate (2:17)
- Martha And The Horses (3:14)
- Ives Torments Boyd And Kills Knox (2:16)
- Saveoursoulissa (8:38)
- Boyd’s Beauty Pt. A* (4:21)
- Screech Jam* (3:31)
- The Pit* (4:40)
*Additional production and mix by William Orbit