Im Jahr Eins nach der
Herr der Ringe-Trilogie überrascht
Howard Shore mit einer Komposition, wie sie nicht weiter von der leitmotivischen, opernhaften
Vertonung der Tolkien-Adaption entfernt sein könnte. Man könnte meinen, dies sei ein
geschickter Schachzug, um allen möglicherweise aufkommenden Vergleichen aus dem Weg zu gehen.
Tatsächlich dürfte aber in erster Linie die filmische Vorlage für das musikalische Konzept
maßgebend gewesen sein. Martin Scorseses epische Filmbiographie
The Aviator über den
schillernden amerikanischen Flugpionier und Filmproduzent Howard Hughes (1905-1976) ist
natürlich kein Fantasy-Märchen, sondern widmet sich einer zwiespältigen und nicht
unumstrittenen Berühmtheit des 20. Jahrhunderts, die ausgehend vom strahlendem Ruhm in
den 20er und 30er Jahren in späteren Jahren den tiefen Fall in eine schwere psychische
Krankheit erlebt hat.
Howard Shore begegnet der Handlung mit einer kühlen, zum Teil ungewöhnlich formenstrengen Tonsprache
im neobarock gehaltenen Stil. Bereits das Eröffnungsstück "Icarus" spiegelt die Besessenheit Hughes
in einer fugenartigen Gestalt, in der das ansonsten vielleicht etwas unscheinbare Hauptthema
glänzend zur Geltung kommt. Zweites zentrales Thema ist eine Blechbläserfanfare,
die dann doch entfernt an den Herrn der Ringe erinnert, hier
aber Hughes Abenteuerlust am Geschwindigkeitsrausch zelebriert. Beide Themen durchziehen
die Partitur in zahlreichen Variationen, wobei Shore immer wieder fugen- und kanonartige
Techniken als Symbol für Hughes den Erfinder und Tüftler einsetzt. Durch eine Reihe von
Stücke weht auch ein dezenter Hauch lateinamerikanischer Folklore, der sich vor allem
durch die Verwendung von Kastagnetten als Rhythmus gebendes Instrument und gelegentliche
Gitarrensoli äußert. Diese Einflüsse sind laut einem Interview, das Shore dem Internetmagazin
Music from the Movies gab, der in den 20er
und 30er Jahren in Kalifornien populär gewordenen südamerikanischen Musik geschuldet.
Der spröde wirkende Klassizismus der Komposition mag viele Hörer anfänglich irritieren,
denn Shore hat seine Arbeit konzeptionell abseits der derzeit in Hollywood üblichen
Vertonungsschemata angelegt. Dieser Mut zum Andersartigen macht seinen Beitrag zum Aviator
zu einer ungewöhnlichen Filmmusik, die einigen Respekt abverlangt. Dass der letzte Funke
dennoch nicht ganz überspringt, liegt vor allem an einer im Verlauf etwas zu gleichförmigen
Gestaltung, der eine gewisse Statik im Umgang mit den Themen anhaftet. Am Anfang der CD
stehen zwar mehrere packende Stücke, die die zentralen Motive und stilistischen Ideen der
Musik einführen. Doch danach folgen kaum noch neue Elemente. Dies hat zur Konsequenz, dass
der Komposition im letzten Drittel ein klein wenig der Atem ausgeht. Von schlechter Filmmusik
kann deshalb aber noch lange keine Rede sein. Insgesamt handelt es sich um eine ambitionierte
und überzeugende Arbeit mit kleinen Schwächen.
Die von Decca parallel zum Filmstart veröffentlichte Score-CD umfasst die komplette Musik,
die Howard Shore für den Film komponiert hat. Von den 47 Minuten fanden allerdings nur
knapp zwei Drittel Eingang in den fertigen Film, da Scorsese wie schon bei Gangs of New York
auf eine ganze Palette von Source-Stücken zurückgegriffen hat.
Bei einer Lauflänge von über zweieinhalb
Stunden leistet der Score daher freilich nur einen verhältnismäßig kleinen Beitrag zum Film und
tritt kaum markant in Erscheinung. Dieser Umstand disqualifizierte Shores
Arbeit für die Oscarverleihung 2005. Die Auslandspresse in Hollywood sah darin hingegen kein
Problem. Sie zeichnete The Aviator mit dem Golden Globe für die beste Musik des Jahres aus. (mr)
Decca 210 5579
The Flemish Radio Orchestra
Dirigent: Howard Shore
47:28 Min.
Filminfo:
Regie: Martin Scorsese
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Cate Blanchett
Tracklist:
- Icarus (3:58)
- There is no Great Genius without Some Form of Madness (2:50)
- Muirfield (2:22)
- H-1 Racer Plane (3:20)
- Quarantine (3:52)
- Hollywood 1927 (2:59)
- The Mighty Hercules (3:32)
- Howard Robard Hughes, Jr (3:57)
- America's Aviation Hero (2:05)
- 7000 Romaine (2:22)
- The Germ Free Zone (2:49)
- Screening Room (5:27)
- Long Beach Harbour 1947 (3:49)
- The Way of the Future (4:01)