Ein russischer Komponist, der klassische amerikanische Westernmusik
komponiert? Eine derart erstaunliche Kombination war wohl nur im Golden Age der
Kinosinfonik in Hollywood möglich. Und wie so oft in den 30er und 40er Jahren
des zwanzigsten Jahrhunderts ist sie mit einem turbulenten und erstaunlichen
Werdegang verbunden.
Dimitri Tiomkin wurde 1879 in der Ukraine geboren. Am St. Petersburger
Konservatorium erhielt er eine klassische Musikausbildung unter Felix Blumenfeld (Klavier) und
Alexander Glazunov (Harmonielehre und Kontrapunkt). Nach der russischen Revolution
emigrierte er zunächst nach Berlin und wenig später nach Paris, wo er eine
lebendige Kulturszene antraf, die ihn mit Musicals und vor allem Jazz in Berührung
brachte. Die Premiere von George Gershwins Klavierkonzert in F brachte Tiomkin ersten
Ruhm und internationale Aufmerksamkeit. An MGM verkaufte er in diesen Jahren zahlreiche
Jazzkompositionen. An der Carnegie Hall erhielt er zusätzlich zahlreiche Engagements als Pianist. Diese Kontakte führten
dazu, dass Tiomkin und seine erste Frau in den schweren Zeiten der Weltwirtschaftskrise
nach Amerika auswanderten, wo sie sich mit ersten Aufträgen für Ballettaufführungen
über Wasser hielten.
Anfang der dreißiger Jahre kam Tiomkin zum Film und erlebte somit die Anfänge der
Hollywoodschen Kinosinfonik parallel zu den frühen Arbeiten von Größen wie Max Steiner, Miklós Rózsa
oder Erich Wolfgang Korngold. Nach den ersten Vertonungen für Resurrection (1931) und
Alice in Wonderland (1933) kam vier Jahre später der große Durchbruch mit Frank Capras
Lost Horizon (1937) - die Musik wurde mit einer Oscarnominierung belohnt.
(Seinen ersten Oscar sollte Tiomkin 1952 für High Noon - Zwölf Uhr Mittags erhalten.)
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John Wayne in Howard Hawks' Red River |
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Mit der Arbeit fürs US-Kino folgten für Tiomkin natürlich zwangsläufig auch Westernmusiken.
Einige dieser Arbeiten gelangen ihm dabei so hervorragend, dass sie zu den berühmtesten
und populärsten Westernvertonungen überhaupt gehören - darunter zum Beispiel
Red River (1948)
oder
The Big Sky (1952). Umso überraschender mutet es an, dass bis zu diesem Jahr beide
Musiken nicht bzw. nur in Auszügen auf Tonträger vorlagen. Während die Bright Young University in den
Staaten die originalen Acetatplatten von
The Big Sky gerettet und inzwischen auch veröffentlicht hat,
kommt nun vom bewährten
Team Morgan/Stromberg die vollständige Neueinspielung des vier Jahre zuvor entstandenen Scores zu
Red River.
Der Western von Howard Hawks über den ersten großen Viehtrieb gen Westen zählt seinerseits
zu den Klassikern des Genres.
Tiomkins Tonschöpfung lässt mit warmherziger Nostalgie die Pioniertage Amerikas auferstehen.
Gleich das Hauptthema, in dem nach einer Hörnerfanfare ein Männerchor zum majestätischen - folkloristisch anmutenden -
Hauptthema "Settle down in the land of Glory" intoniert, gibt dem wehmütigen-verklärten
Blick auf die Siedlerzeit ein musikalisches Gesicht. Diese Westernnostalgie prägt die gesamte
Partitur, aus der das Hauptthema zusammen mit der lyrisch-melancholischen Melodie für die verstorbene Fen
besonders heraussticht. Als Kontrast dazu gibt es immer wieder brachiale, bei den ersten Hördurchgängen
geradezu zu chaotisch-schrill wirkende Ausbrüche des Orchesters, in denen Tiomkin die Gefahren des Trecks, etwa
Indianerattacken, wildgewordene Viehherde oder Unwetter in ihrer Bedrohlichkeit unterstreicht.
Gerade in diesen spieltechnisch schwierigen Stücken zeigt sich die markante dramatische Handschrift des
Komponisten. In "Stampede" zum Beispiel gelingt ihm mit einem vielstimmigen schroff-dissonanten Einsatz des Blechs über
kraftvollem Schlagwerk, das Chaos in der Herde faszinierend bildhaft zu illustrieren.
Die musikalische Nähe zur Folklore zeigt sich auch in zahlreichen Traditionals wie "Ol' Man River" oder
"Oh Susannah", die Tiomkin in seiner Musik geschickt zitiert und nahtlos einbindet.
Überhaupt ist Red River eine Partitur, die in kräftigen, leuchtenden Klangfarben schwelgt
und immer wieder das gesamte Orchester zum Einsatz kommen lässt.
Die Moskauer Sinfoniker unter der Leitung von William Stromberg sind der anspruchsvollen Komposition in jeder Hinsicht gewachsen. Allein der
Chor musste in Ermangelung englischer Sprachkenntnisse auf die Lautschrift ausweichen, weshalb der Text nur mit
ein wenig Fantasie zu verstehen ist. Da der Gesang ansonsten überzeugt und die meisten Choräle
wortlos sind, kann man hier aber kaum von einer großen Schwäche sprechen.
Das ausführliche - und schön bebilderte - Booklet kann trotz eines etwas zu euphorischen
und distanzlosen Begleittextes ebenfalls überzeugen. Red River ist damit ein weiteres Highlight
von Morgan/Stromberg in der Filmmusikreihe von Marco Polo. Wer hier nicht zuschlägt, ist selber schuld. (mr)