Auch weiterhin ist nicht nur das Duo John Morgan & William T. Stromberg sondern auch der Schweizer Dirigent Adriano
für die Filmmusikneueinspielungen des Labels Marco Polo tätig. Adriano musste in der Vergangenheit für einige seiner Projekte recht harsche - oftmals aber nicht unberechtigte -
Kritik einstecken. So gerieten ihn zum Beispiel Franz Waxmans
Rebecca
oder Bernard Herrmanns
Jane Eyre sehr unglücklich. Doch diese etwas blassen Einspielungen
gehören mittlerweile offenbar der Vergangenheit an. Denn mit der neuen - Dmitry Shostakovich - gewidmeten
CD für Marco Polo weiß er zu punkten.
Enthalten sind zwei Filmpartituren Shostakovichs, die dieser unter Stalin für
Propagandafilme des Regimes schreiben musste. Der erste ist Der Fall von Berlin (1949),
ein heroisch-pathetisches Schlachtengemälde, dass den verbrecherischen Diktator zum genialen Kriegslenker
verklärt, der zweite, Das unvergessene Jahr 1919, zeigt einen jungen Stalin im russischen
Bürgerkrieg. Es sollte eine der letzten, Stalin zur Heldenfigur machenden, Propagandaproduktionen
sein. Denn der Diktatur starb nur zwei Jahre später und das staatlich kontrollierte Kino ging damit in Russland
seinem Ende zu.
Der Fall von Berlin fundiert auf einem heroisch-hymnenartigen Hauptthema, das gleich im "Main Title"
auftritt. Wer hier eine allzu simpel-banale Melodie erwartet, wird enttäuscht. Das Hauptthema ist nicht nur
an sich effektvoll und einprägsam, sondern wird dazu auch noch exzellent verarbeitet. Ähnlich geht es bei den folgenden lyrischen
Passagen ("Beautiful Day" und "Alyosha by the river") zu. Die Meisterschaft des Komponisten blitzt praktisch
in jedem Stück auf, etwa im pfiffig karikierten Marsch in "Hitler's Reception" oder den griffigen Spannungsmusiken
der Kampfszenen. Allein das triumphale Finale mit dem Hauptthema als Marsch samt Chorgesang wird zur pompösen, hoffnungslos
übersteigerten Stalin-Glorifizierung.
Dem gegenüber ist Das unvergessene Jahr 1919 eine etwas intimere, lyrische Komposition, die ein wenig
Richtung Hollywood schielt. Besonders reizvoll ist hier das eingebettete Klavierkonzert, welches an
John Addinsells Warsaw Concerto erinnert. Ein gewisser Pathos im Hauptthema (aber weniger stark als beim Fall von Berlin)
darf natürlich auch hier nicht fehlen.
Beim eingehenden Hören beider Arbeiten entsteht der Eindruck, dass sich der Komponist in vielen Stücken über den banalen
filmischen Kontext hinwegsetzt und diesen hinter sich lässt. Eine Kritik, die Shostakovichs Partituren allein aufgrund
ihres Propagandazwecks minderwertige Qualität bescheinigt, greift deshalb zwangsläufig zu kurz.
Dass derlei Stimmen sich kürzlich in den USA hervortaten, erscheint dabei besonders befremdlich.
Betrachtete man nämlich zuletzt Filme wie Tränen der Sonne oder Wir waren Helden etc, sollte man dort
wohl zunächst vor der eigenen Haustüre kehren.
Allen Propagandazwecken zum Trotz sind Der Fall von Berlin und Das unvergessene Jahr 1919
packende, bisweilen sogar mitreißende Filmmusik von einer Qualität, die zwar nicht ganz den Konzertwerken
des Komponisten entspricht, aber hochwertig genug ist, um auch abseits der wohl allein aus geschichtlichen
Gründen noch interessanten Filme bestehen zu können.
Bereits 1995 spielte Michail Jurowski Fragmente
von Der Fall von Berlin in einer Gesamtlänge von rund einer halben Stunde mit den Deutschen Symphonie-Orchester
Berlin für das Label Capriccio ein. Adriano hat mit der neuen Marco Polo-CD nun den kompletten Score mit eine Laufzeit
von einer guten Dreiviertelstunde aufgenommen. Waren frühere Adriano-Einspielungen misslungen, hat sich der Dirigent mittlerweile
deutlich gesteigert und mit dem Shostakovich-Album eine rundum überzeugende Arbeit vorgelegt, die sich durchaus
mit Jurowski messen kann, für meinen Geschmack sogar noch eine Spur dynamischer und bissiger ausgefallen ist.
Das ausführliche Booklet rundet die vorzügliche CD ab, die besonders auch Einsteigern in die Filmmusik
des russischen Komponisten empfohlen werden kann. (mr)
Marco Polo 8.223897
Moscow Symphony Orchestra / Moscow Capella & Youth Chorus
Dirigent: Adriano
75:30 Min.
Filminfo "Der Fall von Berlin":
Originaltitel: "Padeniye Berlina "
Regie: Mikheil Chiaureli
Darsteller: Boris Andreyev, Mikheil Gelovani
Filminfo "Das unvergessene Jahr 1919":
Originaltitel: "Nezabyvayemyj god 1919"
Regie: Mikheil Chiaureli
Darsteller: Boris Andreyev, Mikheil Gelovani
Tracklist:
The Fall of Berlin (Complete Score)
- Main Title Part 1 (2:44)
- Beautiful Day (2:15)
- Alyosha by the River (1:39)
- Stalin's Garden (2:02)
- Alyosha and Natalia in the Fields - Attack (3:53)
- Hitler's Reception (1:32)
- In the Devastated Village (2:40)
- Forward! (0:58)
- Main Title Part 2 (2:06)
- The Roll Call - Attack at Night (3:01)
- Storming Seelov Heights (6:26)
Zielona Gora
- The Flooding of the Underground Station (1:11)
- The Final Battle for the Reichstag - Kotya's Death (4:06)
- Yussuf's Death - The Red Banner (3:41)
- Stalin at Berlin Airport (4:28)
- Finale: Stalin's Speech - Alyosha and Natasha Reunited (2:44)
The Unforgettable Year 1919 (Suite)
- Introduction (2:04)
- Romance (Meeting of Shibayev with Katya) (4:52)
- Scene from the Sea Battle (2:19)
- Scherzo (2:25)
- The Assault on the Red Hill (7:00)
- Intermezzo (5:03)
- Finale (6:06)